Mangled Extremity Severity Score (MESS): Entscheidungshilfe bei drohenden Amputationen

Mangled Extremity Severity Score (MESS): Entscheidungshilfe bei drohenden Amputationen

Amputation oder nicht? Im klinischen Alltag kann diese Entscheidung gerade bei akuten schweren Verletzungen schwierig sein. Bewertungssysteme wie der Mangled Extremity Severity Score (MESS) können helfen, die Chancen auf einen erfolgreichen Extremitäten-Erhalt abzuschätzen.

Was ist der Mangled Extremity Severity Score (MESS)?

Beim Mangled Extremity Severity Score (MESS) handelt es sich um eine Bewertungsskala für Traumata der unteren Extremitäten. Anhand objektiver Kriterien hilft das Assessment mit dem MESS bei der oftmals schwierigen klinischen Entscheidungsfindung, ob eine verletzte Extremität erhalten werden kann oder ob eine Amputation unausweichlich ist.

Dabei stützt sich der MESS auf vier Faktoren:1,2

  1. Verletzungsmuster: Das Ausmaß der Weichteilverletzung und der Zerstörung der Knochen ist ein wesentlicher Faktor für den Erhalt von Gliedmaßen. Der MESS berücksichtigt den mit der Verletzung verbundenen Energieeintrag, die Ursache des Traumas, wie zum Beispiel Schussverletzungen, sowie weitere Merkmale der Wunde.
  2. Durchblutungsstörungen: Das Ausmaß und die Dauer der Durchblutungsstörung sind maßgeblich für das klinische Ergebnis.
  3. Schockzustand: Eine systemische Hypotonie wirkt sich negativ auf die verletzte Extremität aus. Denn zum einen verschlechtert ein Blutdruckabfall die Durchblutung und zum anderen kann eine Hypotonie auf weitere (innere) Verletzungen hinweisen, die möglicherweise zuerst versorgt werden müssen, was wiederum die Behandlung der verwundeten Extremität verzögern kann.
  4. Lebensalter der Betroffenen: Aufgrund der bei älteren Menschen häufig vorliegenden Komorbiditäten, werden Traumata von ihnen oft weniger gut verkraftet als von jüngeren Menschen.

Der MESS wurde 1990 entwickelt und mit schwer verletzten Patientinnen und Patienten evaluiert.2-4

Wie wird der Mangled Extremity Severity Score (MESS) angewandt?

Der MESS setzt sich aus den oben genannten vier Faktoren zusammen. Jedem der Faktoren sind mindestens drei Auswahlmöglichkeiten (Optionen) zugeordnet, die jeweils mit einer Punktzahl von 0 bis 4 bewertet sind (Abb. 1). So wird beispielsweise das Verletzungsmuster nach der dafür erforderlichen Energie differenziert. Zum Beispiel hängt der Score für eine Schusswunde vom Waffentyp ab – eine Wunde durch einen Pistolenschuss wird mit 1 bewertet, eine Gewehrschussverletzung dagegen mit 3.1,2

Abb. 1: Punkteverteilung des Mangled Extremity Severity Score (MESS)1,2-4 

ParameterPunktezahl
1. Verletzung der Knochen und Weichteile

 

geringe Energie (Stich, einfache Fraktur, „ziviler“ Pistolenschuss)

1

mittlere Energie (dislozierte offene Fraktur)

2

hohe Energie (Autounfall mit hoher Geschwindigkeit, Gewehrschuss aus kurzer Distanz oder im militärischen Kontext)

3

sehr hohe Energie (Quetschung, Teilabtrennung von Weichteilen; Autounfall mit hoher Geschwindigkeit plus grobe Verschmutzung/Kontamination der Wunde)

4

2. Durchblutungsstörung

 

abgeschwächter oder fehlender Puls, aber normale Perfusion 

1*

pulslos, Kapillaren minderdurchblutet, Missempfindungen

2*

kalte, gelähmte und gefühllose Extremität

3*

3. Schock

 

Systolischer Blutdruck > 90 mmHg

0

vorübergehend hypoton

1

permanente Hypotonie

2

4. Alter

 

< 30 Jahre

0

30 – 50 Jahre

1

> 50 Jahre

2

Der MESS wird wie folgt ermittelt:1,2,4

  1. Berechnung der Gesamtpunktzahl anhand der vier Faktoren und ihrer Optionen.
  2. (*) Bei einer Ischämie-Dauer von mehr als sechs Stunden wird die Punktzahl für den 2. Faktor „Durchblutungsstörung“ verdoppelt, da in diesem Fall eine Kontraindikation für einen Versuch des Extremitäten-Erhalts besteht.
  3. Ein MESS von bis zu 6 Punkten sollte zum Extremitäten-Erhalt ermutigen.
  4. Bei einem MESS von 7 Punkten oder mehr kann eine Indikation für eine Amputation gestellt werden.

Was sind die Grenzen des Mangled Extremity Severity Score (MESS)?

Bewertungsskalen wie der MESS dienen als Orientierungshilfe bei kritischen klinischen Entscheidungen. Sie haben allerdings ihre Grenzen:1,5

  • Grundsätzlich gilt: Das Ergebnis eines Scores bietet eine Entscheidungshilfe, löst aber nicht das Dilemma für Ärztinnen und Ärzte, eine buchstäblich einschneidende, irreversible Entscheidung treffen zu müssen.
  • Ein MESS von 7 oder mehr bedingt nicht automatisch eine Amputation. Wenn keine Lebensgefahr besteht, sollte immer eine multidisziplinäre Entscheidungsfindung stattfinden.
  • Der MESS wurde für Traumata der unteren Extremitäten entwickelt. Für die oberen Extremitäten ist er nicht oder nur sehr eingeschränkt anwendbar.
  • Die Bewertungskriterien des MESS gelten für akute Traumata, nicht für Amputationsentscheidungen aufgrund von chronischen Wunden wie dem diabetischen Fußsyndrom.
  • Der MESS wurde bereits vor über 30 Jahre entwickelt und publiziert. Inzwischen haben die medizinischen Möglichkeiten – vor allem in der rekonstruktiven Chirurgie – erhebliche Fortschritte gemacht. So kann heute manche verletzte Extremität gerettet werden, deren MESS über 7 beträgt.

Literatur

Die Autorin Michelle Eisenberg
Michelle Eisenberg, examinierte Pflegekraft

Michelle Eisenberg ist examinierte Pflegekraft mit der Zusatzqualifikation Praxisanleitung in der Pflege.
Sie hat sowohl in der ambulanten als auch stationären Pflege Erfahrung gesammelt.
Seit einiger Zeit arbeitet Frau Eisenberg im Kundenservice von Dr. Ausbüttel im Bereich Beratung.