Altersdepression: Interview zu Ursachen, Symptomen, Behandlung
Immer mehr ältere Menschen leiden unter Depressionen, die oft nicht erkannt oder ernst genommen werden. Umso wichtiger ist es, diesem Thema mehr Aufmerksamkeit zu schenken und zu enttabuisieren.
Um medizinische Fachkräfte zu sensibilisieren, bietet das folgende Interview Einblicke in die Ursachen, Symptome und Behandlungsmöglichkeiten von Altersdepressionen.
Die Fragen stellte Christine von Reibnitz.
Christine von Reibnitz: Was genau ist eine Altersdepression?
Katja Sonntag: Unter Altersdepression versteht man eine Depression, die ab dem 65. Lebensjahr erstmalig oder erneut auftritt.
Christine von Reibnitz: Wie häufig ist eine Altersdepression?
Katja Sonntag: Neben der Demenz ist eine Depression die häufigste psychische Erkrankung im Alter. Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, an einer Depression zu erkranken. Schätzungen zufolge leiden etwa 20 % der über 65jährigen an einer Depression, bei Bewohnern von Pflegeheimen steigt dieser Anteil sogar auf 30 bis 40 %. Frauen erkranken insgesamt häufiger an Depressionen als Männer.
Christine von Reibnitz: Was sind die Herausforderungen für die Pflege?
Katja Sonntag: Altersdepressionen treten häufig gemeinsam mit anderen physischen oder psychischen Erkrankungen auf. Gleichzeitig äußern ältere Patienten eher körperliche Beschwerden, welche dann durch den Arzt behandelt werden. So werden Altersdepressionen häufig nicht adäquat behandelt.
Christine von Reibnitz: Wie erkenne ich als Pflegekraft Depressionen im Alter?
Katja Sonntag: Depressionen sollten nicht mit schlechter Laune oder Traurigkeit verwechselt werden. Auch die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen mündet nicht automatisch in einer Depression. Während Traurigkeit quasi ein Gefühlstief ist, welches zum Leben quasi dazugehört, wird bei einer Depression die Lebensqualität über einen längeren Zeitraum hinweg deutlich gemindert.
Zu den Symptomen gehören eine gedrückte Stimmung, ein mangelndes Selbstwertgefühl, verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, Aktivitätseinschränkungen und Interessenverlust, Schuldgefühle oder Freudlosigkeit. Eine Depression wird von Betroffenen oft als „Gefühl der Gefühllosigkeit“ beschrieben.
Ältere Menschen somatisieren häufig ihre Symptome, sprechen eher von Schmerzen, Schwindel, Appetitlosigkeit, leichter Ermüdbarkeit oder Magen-Darm-Problemen.
Christine von Reibnitz: Welche Rahmenbedingungen können im Alter anfällig für eine depressive Erkrankung machen? Was sind auslösende Umstände und Risikofaktoren für eine Altersdepression?
Katja Sonntag: Es gibt unterschiedliche Risikofaktoren für eine Altersdepression. Ein Faktor ist das Geschlecht, da Frauen insgesamt etwa doppelt so häufig wie Männer an einer Depression erkranken, unabhängig vom Lebensalter.
Ansonsten ist das Risiko erhöht, wenn eine Person zu einem früheren Zeitpunkt schon einmal an einer Depression erkrankt war oder es in der Familie Menschen gibt, die an Depressionen erkrankt waren oder sind.
Des Weiteren gibt es eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur, die das Risiko einer Depression erhöht. Dazu zählen Menschen, die eher ängstlich, vermeidend, zwanghaft, introvertiert und kontaktarm sind. Auch das Fehlen von persönlichen zwischenmenschlichen Beziehungen erhöht das Risiko einer Altersdepression. Aber auch Veränderungen im Alter wie Rollenverluste durch einen Renteneintritt oder funktionale Einbußen durch körperliche Erkrankungen erhöhen das Risiko einer Altersdepression.
Katja Sonntag ist Diplom-Heilpädagogin mit dem Schwerpunkt Gerontologie und arbeitet seit 2005 in der stationären Altenpflege. Sie hat in der Pflege und der sozialen Betreuung gearbeitet und leitet mittlerweile zwei stationäre Pflegeeinrichtungen.
Christine von Reibnitz: Was ist die Geriatrische Depressionsskala (GDS) und inwiefern ist diese hilfreich?
Katja Sonntag: Die Geriatrische Depressionsskala ist ein Assessmentinstrument zur Erkennung von Depressionen im Alter. Sie kann zur Diagnostik sinnvoll genutzt werden, wenn zusätzlich noch organische Ursachen der Beschwerden ausgeschlossen werden und eine bildgebende Diagnostik zum Ausschluss einer Demenz erfolgt.
Bei der Geriatrischen Depressionsskala soll der Betroffene 15 Fragen beantworten, zum Beispiel: „Finden Sie, es sei schön, jetzt zu leben?“ oder: „Fühlen Sie sich voller Energie?“ Anhand der erreichten Punktzahl kann geschlossen werden, ob eine Depression vorliegt. Die Geriatrische Depressionsskala allein ersetzt aber keine ausführliche Diagnostik.
Christine von Reibnitz: Wie sollten sich Pflegekräfte oder Angehörige beim Verdacht auf eine Depression verhalten?
Katja Sonntag: Der Verdacht auf eine Depression sollte in jedem Alter ernst genommen werden. Der Betroffene sollte behutsam auf den Verdacht angesprochen werden und gebeten werden, einen Arzt aufzusuchen. Depressionen sind in vielen Fällen gut therapierbar.
Christine von Reibnitz: Inwieweit hängen Depression und Demenz zusammen? Wie unterschiedet man eine Altersdepression von einer Demenz?
Katja Sonntag: Gerade im höheren Lebensalter werden die Symptome einer Demenz und einer Depression häufig verwechselt. Eine Differentialdiagnostik ist wegen der unterschiedlichen Behandlungsoptionen aber sehr wichtig. Menschen mit einer Altersdepression schneiden in Tests zur Demenz-Diagnostik häufig schlecht ab oder äußern subjektiv starke Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Auch Sprachstörungen kommen nicht selten bei einer Depression im Alter vor. Die Beschwerden werden bei einer Depression häufig schlimmer dargestellt, als sie wirklich sind, während Personen mit einer Demenz ihre Symptome eher bagatellisieren. Zugleich tritt eine Depression innerhalb eines kurzen Zeitraums auf, während sich die Symptome bei einer Demenz über einen langen Zeitraum hinweg stetig verschlechtern.
Für die Differentialdiagnostik kommt erschwerend hinzu, dass bei vielen Menschen sowohl eine Depression als auch eine Demenz parallel auftreten und die Symptome sich gegenseitig verstärken. Gerade bei Menschen mit einer leichten Demenz führen die zunehmenden kognitiven Einschränkungen zu depressiven Verstimmungen, Stimmungsschwankungen und sozialem Rückzug.
Christine von Reibnitz: Depression ist für einige Menschen ein Tabuthema. Wie gehen Sie mit Betroffenen um, denen dieses Thema peinlich zu sein scheint?
Katja Sonntag: Besonders in der Generation der jetzt älteren und alten Menschen scheint es peinlich zu sein, an einer psychischen Erkrankung zu leiden. Diese Art von Erkrankungen wurde totgeschwiegen. Liegt eine solche Denkweise vor, äußern Betroffene eher körperliche Symptome wie Schwindel, Schmerzen, Müdigkeit oder Verstopfung. Wichtig ist, dass Ärzte und Pflegekräfte dennoch in ihre Überlegungen einfließen lassen, ob eventuell eine Depression vorliegt. Vielleicht lässt sich der eine oder andere Betroffene auf eine Behandlung mit einem Antidepressivum ein, wenn er als Stimmungsaufheller betitelt wird. Die Menschen mit ihren individuellen Symptomen und Lebenseinstellungen müssen auf jeden Fall ernst genommen und akzeptiert werden.
Christine von Reibnitz: Welche Behandlungsmöglichkeiten / Unterstützungsmöglichkeiten gibt es bei einer Altersdepression?
Katja Sonntag: Zum einen gibt es die Möglichkeit der medikamentösen Therapie mit Antidepressiva, insgesamt stehen ca. 30 verschiedene Medikamente zur Verfügung, welche alle den Serotoninspiegel beeinflussen. Die medikamentöse Therapie führt bei ca. 50 % der Betroffenen zu einer Verbesserung der Symptomatik. Des Weiteren kann eine Psychotherapie die Symptome einer Depression verbessern, unabhängig vom Lebensalter der Betroffenen.
Am wirksamsten zeigt sich eine Kombination von Psychotherapie und medikamentöser Therapie. Weitere Therapiemöglichkeiten wie Lichttherapie oder Schlafentzug spielen nur eine untergeordnete Rolle, auch wenn sie den Betroffenen durchaus helfen können.
Christine von Reibnitz: Wie würden Sie die folgende Aussage einer Betroffenen beurteilen? „Psychotherapie? Ich bin doch zu alt für so etwas. Ich habe mein Leben doch bereits gelebt, was soll das jetzt noch bringen?“
Katja Sonntag: Auch im höheren Lebensalter ist es lohnenswert, sich bei psychischen Problemen professionelle Hilfe zu suchen. Es gibt spezielle Psychotherapieprogramme für ältere Menschen. Hier geht es häufig darum, wie Menschen trotz möglicher Einschränkungen und Verluste mehr Lebensqualität gewinnen und ihr Wohlbefinden stärken können. Der Erfolg einer Psychotherapie ist im höheren Lebensalter nicht schlechter als bei jüngeren Menschen.
Christine von Reibnitz: Welche Hilfsangebote gibt es? Was können Pflegekräfte tun, wenn sie eine Depression vermuten oder wenn eine Diagnose gesichert wurde?
Katja Sonntag: Der erste Schritt ist eine gute Diagnostik, möglichst durch einen entsprechenden Facharzt. Pflegekräfte können hier die notwendigen Kontakte herstellen.
Ist die Diagnose gesichert, sollte mit einer Therapie begonnen werden. In der Praxis ist es schwer, neben Antidepressiva auch eine Psychotherapie zu erhalten. Gerade eine aufsuchende Psychotherapie, insbesondere für Bewohner von Pflegeheimen, ist kaum zu finden, auch wenn sie den Betroffenen durchaus helfen würde.
Pflegekräfte können aber auch durch ihr Verhalten Einfluss nehmen. Zum einen ist es wichtig, den Menschen mit einer Depression wertschätzend und verständnisvoll gegenüberzutreten. Eine feste Tagesstruktur kann Halt geben, ebenso wie sinnvolle Aktivitäts- und Beschäftigungsangebote. Man sollte fürsorglich auftreten und verbindliche Beziehungsangebote machen.
Christine von Reibnitz: Wie reagieren Sie, wenn lebensmüde Gedanken geäußert werden wie „Ich will nicht mehr leben“?
Katja Sonntag: Solche Gedanken müssen auf jeden Fall immer sehr ernst genommen werden. Es ist in der Gesellschaft nicht allgemein bekannt, aber die Suizidrate steigt mit dem Alter an, insbesondere bei Männern. Viele versteckte Suizide, zum Beispiel durch Nichteinnahme von Medikamenten oder Verweigern der Nahrungsaufnahme sind hier noch gar nicht erfasst.
Ältere Menschen setzen ihrem Leben selten spontan und unüberlegt ein Ende, meist denken sie vorher längere Zeit darüber nach und planen ihren Abschied vom Leben. Hinweise auf eine Suizidgefährdung sollten vom Umfeld immer sehr ernst genommen werden. Der behandelnde Arzt muss immer darüber informiert werden. Im schlimmsten Fall muss überlegt werden, ob ein stationärer Klinikaufenthalt, sogar gegen den Willen des Patienten, erforderlich ist.
Bei einer schweren Depression ist der Mensch nicht mehr zu klaren Entscheidungen fähig, dies gilt als Ausdruck der Erkrankung.
Christine von Reibnitz: Was können Pflegekräfte und Angehörige tun, um einer Altersdepression vorzubeugen?
Katja Sonntag: Es gibt einige Faktoren, die das Risiko verringern können, an einer Altersdepression zu erkranken. Zum einen ist dies ein strukturierter Alltag mit regelmäßigen Essens- und Schlafzeiten, des Weiteren eine aktive Freizeitgestaltung. Ebenso wichtig ist die Pflege sozialer Kontakte (Freunde, Familie). Ausreichend Bewegung und Sport, idealerweise an der frischen Luft, tragen zum Erhalt der Mobilität bei, eine gesunde Ernährung beugt dem Auftreten von physischen Erkrankungen vor.
Zu guter Letzt sollten mögliche Seh- und/oder Hörbeeinträchtigungen durch geeignete Hilfsmittel ausgeglichen werden, da sonst soziale Kontakte erschwert sind.