Expertenstandard Sturzprophylaxe – was ist neu?
Seit Oktober 2022 liegt die aktualisierte Fassung des Expertenstandards „Sturzprophylaxe in der Pflege“ vor. Pflegeexperte Siegfried Huhn berichtet im Interview, was sich geändert hat.
Herr Huhn, nach mehr als zehn Jahren wurde der Expertenstandard „Sturzprophylaxe in der Pflege“ zum zweiten Mal aktualisiert. Gibt es überraschende Änderungen?
Nein, es gibt grundsätzlich nichts Neues, was das aktuelle Vorgehen der pflegerischen Sturzprophylaxe infrage stellt. Der bisherige Stand ist also schon sehr gut gewesen. Es gibt nur einige Punkte, die in der aktualisierten Fassung konkretisiert bzw. ergänzt wurden. Neu ist zum Beispiel, dass podologische Interventionen empfohlen werden. Für die Pflegekräfte bedeutet das: Sie müssen nun auf Fußprobleme achten, denn diese können mitunter ein verändertes Gangbild zur Folge haben und mit einem Sturzrisiko einhergehen. Bei Bedarf ist daher eine podologische Fachberatung einzuleiten.
Was sind weitere Neuerungen, die Pflegekräfte kennen sollten?
Neu ist auch, dass Pflegekräfte nun die Medikation von sturzgefährdeten Menschen stärker in den Blick nehmen sollen, vor allem in Hinblick auf Wirkungen und Nebenwirkungen. Fällt ihnen hier etwas auf, müssen sie Handlungsschritte initiieren, i. d. R. gemeinsam mit dem behandelnden Arzt. Ich halte diesen Punkt für problematisch. Ich denke, dass viele Pflegekräfte für diese Verantwortung nicht ausreichend qualifiziert sind und würde daher empfehlen, dass sie bei Unsicherheiten den Medikationsplan von Patienten und Bewohnern einem Apotheker vorlegen. Viele Medikamente und Wechselwirkungen sind so speziell, dass es Expertenwissen braucht. Was ich sehr begrüße, ist, dass der aktualisierte Standard die Anpassung des Wohnumfeldes stärker im Blick hat.
Was raten Sie Pflegekräften hier?
Sie sollten auch bei starken Mobilitätseinschränkungen versuchen, die Betroffenen zum Stehen zu bringen, zum Beispiel beim aktiven Transfer vom Bett in den Rollstuhl. Oder Personen, die im Rollstuhl sitzen, auch mal ans Fenster stellen. Wenn man die Standstabilität erhöht, erleichtert das viele weitere Bewegungen. Auch das von der Pflegewissenschaftlerin Angelika Zegelin empfohlene 3-Schritte-Programm kann eine gute unterstützende Maßnahme sein, um Menschen in die Bewegung zu bringen. Wir wissen, dass die häufigsten Stürze beim Aufstehen und beim Losgehen passieren. Deshalb ist es unbedingt zu empfehlen, erst die Standsicherheit zu stärken, bevor man Gehübungen macht. Hierzu sollte man auch die Physiotherapie einbinden.
Siegfried Huhn ist gelernter Krankenpfleger, studierter Gesundheitswissenschaftler, Dozent und Fachbuchautor.
Er hat an mehreren Expertenstandards mitgewirkt und ist bekannt für seine Arbeiten etwa zur Sturzprophylaxe oder zum Medikamentenmanagement. Vor zwei Jahren wurde er für sein Engagement für die Pflege mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Was empfiehlt der aktualisierte Expertenstandard, wie das Sturzrisiko einzuschätzen ist?
Auch hier hat sich nicht wirklich etwas verändert. Empfohlen wird eine zweischrittige Risikoeinschätzung. In einem ersten Schritt wird bei allen Personen, bei denen man ein Sturzrisiko nicht von vornherein ausschließen kann, ein initiales Screening durchgeführt. Dabei werden die personen-, medikamenten- und umgebungsbezogenen Risikofaktoren erhoben. Zeigen sich hier Anhaltspunkte für ein Risiko, zum Beispiel eine Gangstörung oder mehr als drei Medikamente, erfolgt ein weiterführendes Assessment. Ich würde Pflegekräften hier raten, nicht nur Listen abzuhaken, sondern vor Ort zu schauen, wie sich die sturzgefährdete Person in ihrem Umfeld bewegt und damit auch mögliche Gangprobleme in den Blick zu nehmen.
Ist Bewegungsförderung weiter die Nummer 1 der Sturzprophylaxe?
Ja, das wird im aktualisierten Expertenstandard auch hervorgehoben. Empfohlen werden dazu in allen Settings motorische Trainings wie Kraft- oder Balancetrainings. Allerdings ist hier zu berücksichtigen, dass es bestimmt drei Monate dauert, bis ein solches Training Wirkung zeigt. Zudem eignen sich Trainingsprogramme eher für relativ unabhängige Menschen als für Menschen mit starken Mobilitätseinschränkungen. Der Expertenstandard betont in der aktualisierten Version auch die Bedeutung von Maßnahmen, die ins pflegerische Alltagshandeln integriert werden können, wie bei der Körperpflege, beim Ankleiden oder bei der Unterstützung zum Aufstehen und Hinsetzen.
Was ist damit genau gemeint?
Dazu gehört zum Beispiel, die Lichtverhältnisse, aber auch Sitzmöbel, Bett, Toilette, Dusche oder Badewanne sowie den Fußboden zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. Es bedeutet aber auch, Haltegriffe anzubringen oder rutschfeste Materialien im Nassbereich zu benutzen. Der Expertenstandard bezieht sich hier vor allem auf den ambulanten Bereich. Ich denke aber, dass die Umgebungsanpassung in allen Settings eine Rolle spielen sollte, auch im Pflegeheim oder Krankenhaus. Hier empfehle ich, dass Pflegekräfte in die direkte Krankenbeobachtung gehen. Sie können einen Bewohner zum Beispiel bitten: „Stehen Sie doch mal auf und gehen Sie ins Badezimmer.“ Dann können sie gut erkennen, ob der Bewohner an bestimmten Stellen strauchelt oder sich irgendwo festhalten muss und Haltegriffe notwendig sind oder Möbel umgestellt werden sollten.
Expertenstandards in der Wundversorgung
- Expertenstandard Dekubitusprophylaxe
- Hilfsmittel zur Dekubitusprophylaxe: Empfehlungen des Expertenstandards
- Expertenstandard Erhaltung und Förderung der Hautintegrität in der Pflege
- Expertenstandard Förderung der Mundgesundheit
- Expertenstandard Pflege von Menschen mit chronischen Wunden
- Expertenstandard Schmerzmanagement
- Expertenstandard Sturzprophylaxe
Gibt es Hilfsmittel, die neu zur Sturzprophylaxe empfohlen werden?
Mir sind keine bekannt. Zunehmend Verbreitung finden technologiebasierte Interventionen, zum Beispiel ein Bewegungs- oder Gleichgewichtstraining über den Bildschirm. In diesem Bereich tut sich sehr viel. Noch sind diese technischen Interventionen aber nicht ausreichend evaluiert, um eindeutige Empfehlungen abgeben zu können. Das kann in zwei Jahren anders aussehen. Sinnvoll können zum Beispiel auch Bewegungsmelder sein, speziell bei Leuten mit kognitiven Einschränkungen, die beim Aufstehen Assistenz benötigen. So können Pflegekräfte möglichst schnell reagieren und darüber vielleicht den ein oder anderen Sturz verhindern.
Vonseiten des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung, kurz DNQP, heißt es, dass die einrichtungsinterne Verfahrensregelung ein größeres Gewicht bekommen hat. Was bedeutet das?
Der Begriff Verfahrensregelung ist nicht ganz eindeutig, im Allgemeinen wird darunter oft ein klar vorgegebener Ablaufprozess verstanden. Im Expertenstandard ist damit gemeint, dass Zuständigkeiten, Aufgaben, Abläufe, Ressourcen etc. schriftlich festgehalten sind. Das soll dazu beitragen, dass das individuelle Risiko sturzgefährdeter Personen sowie die geplanten Maßnahmen allen beteiligten Berufsgruppen klar sind und mit Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten transparent dargestellt werden. Beim Thema Sturz müssen eventuell auch andere Berufsgruppen einbezogen werden wie Apotheker, Physiotherapeuten, Podologen oder in bestimmten Fällen auch die Angehörigen. Ich finde es sehr gut, dass die einrichtungsinterne Verfahrensregelung in der aktualisierten Version eine höhere Bedeutung bekommen hat.
Was raten Sie Pflegeeinrichtungen, wie sie die aktualisierten Empfehlungen nun umsetzen können?
Das Gute ist: Sie müssen nicht neu anfangen, sondern können auf das Bestehende aufbauen. Da sich nicht so viel geändert hat, ist der Aufwand für die Einrichtungen gar nicht so hoch. Ich würde empfehlen, eine Arbeitsgruppe oder einen Qualitätszirkel zu beauftragen, um zu schauen: Was hat sich geändert? Was ist für uns relevant? Und welche Anpassungen müssen nun erfolgen, zum Beispiel bei der Dokumentation? Auch sollten Schulungen der Mitarbeiter erfolgen, zum Beispiel im Bereich des Screenings oder bei der Bewegungsförderung.
Literatur
Siehe auch:
Prof. Angelika Zegelin zur Bewegungsförderung in der Pflege