Expertenstandard Förderung der Mundgesundheit – was kann die Pflege leisten?
Probleme im Mundbereich sind häufig – gerade bei Pflegebedürftigkeit. Sie beeinträchtigen das Wohlbefinden und gehen mit gesundheitlichen Risiken einher. Welche Maßnahmen empfiehlt der neue Expertenstandard „Förderung der Mundgesundheit in der Pflege“?
Warum ein gesunder Mund so wichtig ist
Wer schon mal einen Lippenherpes oder eine Aphthe hatte, weiß: Probleme im Mund sind oft schmerzhaft und schränken unser Wohlbefinden stark ein. Ein schlecht sitzender Zahnersatz kann das Kauen erschweren, Mundgeruch kann soziale Kontakte einschränken. Eine gute Mundgesundheit ist also wesentlich, um sich wohl und gesund zu fühlen.
In den vergangenen Jahren hat sich vieles getan, was die Mundgesundheit betrifft. Kinder und Erwachsene sind seltener von Karies und Parodontitis betroffen, wodurch die durchschnittliche Zahnverlustrate sinkt. Dennoch: Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf haben häufiger Zahn- und Mundprobleme als andere Menschen. Oft sind sie nicht in der Lage, ihre Mundgesundheit selbstständig und umfassend durchzuführen. Sie putzen sich weniger häufig die Zähne und gehen seltener zum Zahnarzt. Auch Krankheiten und bestimmte Therapien können die Mundgesundheit beeinträchtigen.1
Das hat Folgen: Karies und Infektionen im Mundbereich können Schmerzen verursachen, ein Zahnverlust kann die Kaufunktion einschränken. Das kann den Ernährungszustand alter Menschen verschlechtern und zu einer zunehmenden Gebrechlichkeit führen. Auch kommt es bei schlechter Mundgesundheit häufiger zu Pneumonien. Koronare Herzerkrankungen, Diabetes, rheumatoide Arthritis, kognitive Einschränkungen und Gebrechlichkeit stehen ebenfalls in Zusammenhang mit schlechter Mundgesundheit.1
Pflegerische Maßnahmen können entscheidend dazu beitragen, die Mundgesundheit zu fördern. Pflegekräfte haben die Verantwortung dafür, einen pflegerischen Unterstützungsbedarf zu erkennen. Gemeinsam mit dem Menschen und seinen Angehörigen planen sie entsprechende Maßnahmen und unterstützen bei der Mundpflege bzw. übernehmen diese vollständig. Auch liegt es in der Kompetenz der Pflegekräfte zu entscheiden, wann es erforderlich ist, andere Berufsgruppen, v. a. Zahnärzte, hinzuzuziehen.1
Was der neue Expertenstandard leisten soll
Der „Expertenstandard zur Förderung der Mundgesundheit in der Pflege“ soll Pflegekräfte bei dieser Aufgabe unterstützen. Er wurde vor 2 Jahren vom Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung (DNQP) nach einem zweijährigen Entwicklungsprozess veröffentlicht. Das Besondere an diesem Expertenstandard: Er ist der erste multiprofessionell erarbeitete Expertenstandard. Mitgewirkt haben 11 Experten aus Pflegewissenschaft und -praxis, 5 Zahnmediziner sowie ein Patientenvertreter.2
Ziel des neuen Expertenstandards ist, Menschen zu unterstützen, die Mundpflege entsprechend ihrem individuellen Bedarf und Bedürfnis durchzuführen. Dies gilt vor allem für Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Beeinträchtigungen. Die Mundpflege erfolgt mit dem Ziel, Erkrankungen der Zähne und des Zahnhalteapparates, Entzündungen und unerwünschte Veränderungen sowie Verletzungen von Mund und Mundschleimhaut vorzubeugen. Auch sollen Komplikationen im Zusammenhang mit Zahnersatz vermieden werden. Bestehen bereits Probleme, sollen Mundgesundheit und Funktionalität von Zähnen und Zahnersatz verbessert bzw. eine weitere Verschlechterung verhindert werden.1
Die Mundgesundheit zeigt sich in der Fähigkeit, ohne Einschränkungen zu kauen und zu essen, deutlich sprechen und lächeln zu können.
Die Mundpflege umfasst die allgemeine Pflege und Reinigung des Mundes, der Schleimhaut, der Zunge sowie der Zähne und des Zahnersatzes. Mundpflege und Mundhygiene werden in diesem Expertenstandard synonym verwendet.1
Die Risiken für Probleme im Mundbereich kennen
Pflegekräfte sind meist die ersten, die Anzeichen eines pflegerischen Unterstützungsbedarfs bei der Mundpflege erkennen. Dafür benötigen sie ein umfassendes Wissen zu Erkrankungen und Veränderungen von Mund und Zähnen sowie möglichen Ursachen, das in Form von Fortbildungen und Schulungen zu vermitteln ist. Zu den Risiken für Probleme im Mundbereich gehören u. a.:1
- Unzureichende Mundhygiene: als Folge von z. B. Verbleib von Speiseresten, Zahnbelägen und Zahnstein, die zu Karies und Entzündungen des Zahnfleisches und des Zahnhalteapparates führen können bis zum Verlust der Zähne.
- Kauprobleme: z. B. durch lockere oder fehlende Zähne oder schlecht sitzenden Zahnersatz, was zu Problemen beim Essen, schmerzhaften Druckstellen oder Entzündungen im Mundbereich führen kann.
- Höheres Lebensalter: mit Rückbildung des Zahnfleisches, Zahnverschleiß sowie Entzündungen im Mundbereich; zudem können altersbedingte Funktionseinschränkungen eine ungenügende Mundhygiene bedingen.
- Rauchen: vermindert die Durchblutung und damit die Abwehrkräfte im Mundbereich und begünstigt das Risiko für Entzündungen.
- Nebenwirkungen von Medikamenten: höhere Blutungsneigung (gerinnungshemmende Medikamente), Zahnfleischwucherungen (z. B. bestimmte Antiepileptika) oder Mundtrockenheit (z. B. Antidepressiva, Diuretika).
- Diabetes mellitus: Bei schlechter Einstellung ist das Risiko für Parodontitis erhöht. Liegt eine solche bereits vor, ist das Einstellen des Blutzuckers erschwert.
- Mundtrockenheit: kann Kau- oder Schluckprobleme sowie Mundgeruch verursachen und die Infektanfälligkeit erhöhen. Möglich sind: schmerzhafte Verkrustungen, eingerissene Lippen und Rhagaden an den Mundwinkeln.
- Menschen mit erhöhtem Risiko: körperliche Beeinträchtigungen (z. B. Lähmung oder Schluckstörung), kognitive Beeinträchtigungen, neurologische Erkrankungen, Polypharmazie, geringe Nahrungsaufnahme, Beatmung, Chemotherapie oder Strahlentherapie im Kopf-Hals-Bereich, OP im Mundbereich, End-of-Life-Care etc.
Die Mundgesundheit einschätzen
Zu Beginn des pflegerischen Auftrags, z. B. Aufnahme in ein Pflegeheim, erhebt die Pflegefachkraft, ob Probleme im Mundbereich vorliegen oder Risiken hierfür bestehen. Das DNQP empfiehlt hier ein zweistufiges Vorgehen: 1. Ein kurzes Screening im Rahmen der pflegerischen Einschätzung sowie 2. ein Assessment, wenn im Screening Probleme festgestellt oder Risiken erkannt wurden.
1. Das Screening: Hier schätzt die Pflegefachkraft ein, ob die Person zu einer der oben genannten Risikogruppen für Probleme im Mundbereich gehört (s. o.). Auch prüft sie, ob objektiv wahrnehmbare oder subjektiv geäußerte Probleme bzw. ein Unterstützungsbedarf im Mund-, Kiefer-, Gesichtsbereich vorliegt, z. B.1
- Schmerzen, Schwellungen oder Verletzungen
- Probleme beim Essen/Kauen (auch Nahrungskarenzen)
- Probleme mit herausnehmbarem Zahnersatz
- Probleme bei der Mundpflege
- Trockene/rissige Lippen, Rhagaden
- Mundtrockenheit
- Mundgeruch
Gehört die Person zu einer Risikogruppe, hat sie Schmerzen im Mund bzw. Kauprobleme oder äußert sie den Wunsch nach Unterstützung bei der Mundhygiene, ist in jedem Fall ein differenziertes Assessment erforderlich. Ergeben sich im Pflegeprozess Veränderungen der Risikofaktoren oder der Mundgesundheit, sollte ein erneutes Screening durchgeführt werden. Sinnvoll können auch feste Wiederholungsintervalle für das Screening sein.1
2. Das Assessment: Ebenso wie das Screening erfolgt das Assessment mittels pflegefachlicher Einschätzung. Dabei werden jedoch die Risikofaktoren und Probleme umfassend beurteilt und Auffälligkeiten im Mundbereich systematisch beschrieben, und zwar in den Bereichen:1
- Probleme im Bereich Mund, Mundhöhle, Zähne
- Probleme mit Zahnersatz
- Mundtrockenheit und reduzierter Speichelfluss
- Mundgeruch
- Pflegerischer Unterstützungsbedarf.
Beim Assessment werden individuelle Kompetenzen, Ressourcen und Gewohnheiten berücksichtigt und ausführlich erfragt, z. B. Wie führen Sie normalerweise die Mundhygiene durch? Welche Zahnpasta mögen Sie, welche nicht? Gibt es besondere Empfindsamkeiten etc. Ist keine Selbstauskunft möglich, werden Angehörige eingebunden. Alle Ergebnisse des Assessments werden dokumentiert. Auch wird festgehalten, welche weiteren Berufsgruppen hinzugezogen werden sollten, z. B. Ärzte, Zahnärzte, Logopäden oder gerontopsychiatrische Pflegefachkräfte.1
Die Expertenarbeitsgruppe empfiehlt kein bestimmtes Einschätzungsinstrument zur Mundgesundheit. Kein Instrument ist für alle Settings und alle Zielgruppen geeignet. Zudem liegen viele nur in englischer Sprache vor oder es werden wichtige Kriterien, z. B. die Selbsteinschätzung, nicht berücksichtigt.2
Bei der allgemeinen und speziellen Mundpflege unterstützen
In Abstimmung mit der betroffenen Person und ggf. den Angehörigen plant die Pflegekraft die pflegerischen Maßnahmen zur Mundgesundheit und führt diese durch bzw. unterstützt dabei. Bei der Planung berücksichtigt sie die individuellen Vorlieben, Abneigungen und Gewohnheiten – außer natürlich, wenn diese als schädigend für die Mundgesundheit identifiziert wurden. In diesem Fall führt sie eine entsprechende Beratung durch.2
Allgemeine Mundpflege: Die Mundpflege sollte mindestens zweimal täglich erfolgen, am besten morgens und abends und im Zusammenhang mit der Körperpflege. Nach individueller Situation kann diese aber auch häufiger erfolgen. Die Pflegekraft unterstützt praktisch bei der Mundpflege, übernimmt die Maßnahmen selbst und/oder schult und berät zum Vorgehen. Idealerweise erfolgt die Mundpflege im Sitzen am Waschbecken oder am Tisch. Wenn nicht anders möglich, erfolgt sie mit aufgerichtetem Oberkörper und leicht angewinkelten Beinen im Bett. Bei trockenen und rissigen Lippen wird empfohlen, diese vor Beginn der mundpflegerischen Maßnahmen mit einer fetthaltigen Salbe einzucremen, um ein Einreißen und damit Schmerzen zu verhindern. Zahnersatz sollte herausgenommen und der Person Gelegenheit zum Ausspülen gegeben werden, um Speisereste zu entfernen. Danach folgt das Reinigen der Zähne, inkl. Reinigung der Zahnzwischenräume mit Interdentalbürsten und abschließender Lippenpflege.1
Zur allgemeinen Mundpflege gehört u. a.:
- Bei der Zahnpflege und der Pflege der Zahnzwischenräume anleiten und diese durchführen,
- zu geeigneten Hilfs- und Pflegemitteln beraten,
- angemessen mit herausnehmbarem Zahnersatz umgehen,
- bei Problemen der Mundschleimhaut entsprechende Pflegemittel anwenden,
- Maßnahmen zur Linderung von Schmerzen durchführen,
- bei der Mundpflege angemessen mit Menschen mit kognitiven Einschränkungen umgehen.2
Je nach Zielgruppe gilt es, besondere Aspekte bei der allgemeinen Mundpflege zu berücksichtigen. Das betrifft z. B. Säuglinge, Kinder und Menschen mit Behinderungen, aber auch, wenn ein Aspirationsrisiko vorliegt, die Person Trinknahrung oder nur eine geringe bzw. keine orale Ernährung zu sich nimmt oder auch am Lebensende.1 Hier gibt der Expertenstandard Empfehlungen, was bei diesen Menschen besonders zu berücksichtigen ist.
Auch geht der Expertenstandard ausführlich darauf ein, wie mit abwehrendem Verhalten im Zusammenhang mit der Mundpflege umgegangen werden kann und wie eine Mundpflege auch bei dieser Zielgruppe stressfrei gelingen kann. Die Experten betonen, dass der Zugang zur Mundhöhle keinesfalls mit Gewalt hergestellt werden darf. Sie empfehlen stattdessen, die mundpflegerischen Maßnahmen ggf. zu einem anderen Zeitpunkt oder durch eine andere Pflegefachkraft durchzuführen.2
Spezielle Mundpflege: Liegen besondere Probleme der Mundgesundheit durch, kann eine spezielle Mundpflege erforderlich sein, z. B. bei Mundtrockenheit/Verkrustungen (Borken), Mundwinkelrhagaden, erhöhtem Speichelfluss (Hypersalivation), Karies, Gingivitis, Parodontitis, Mukositis, Stomatitis, Druckstellen durch herausnehmbaren Zahnersatz, Prothesenstomatitis, Aphten, Herpes labialis, Lymphstau, Mundgeruch, Zahnknirschen etc.1 Der Expertenstandard schlägt bei diesen Problemen konkrete pflegerische Maßnahmen vor und erläutert, wann die Pflegekraft (zahn-)ärztlichen Rat hinzuziehen sollte.
Evaluation: Auch für die Evaluation der Maßnahmen wird kein spezifisches Instrument empfohlen. Der Erfolg der mundpflegerischen Maßnahmen sollte daran festgemacht werden, ob die individuellen Ziele erreicht wurden, auf deren Grundlage die Maßnahmen geplant wurden, z. B. weniger Beläge im Mundbereich oder bessere Selbstkompetenz bei der Mundpflege. Ein wichtiges Kriterium für den Erfolg der Maßnahmen ist auch die Zufriedenheit der Menschen bei der Mundpflege: Akzeptieren sie die Maßnahmen? Haben sie den Eindruck, dass sich ihre Mundsituation verbessert hat?2
Informieren, schulen, beraten
Im Expertenstandard werden Information, Schulung und Beratung als zentrale Pfeiler benannt, um die Mundgesundheit zu fördern. Dazu ist es essenziell, die Selbstkompetenz zu stärken und das Gesundheitsverständnis der alltäglichen Mundpflege zu verbessern. Bedeutsam ist es auch, die Angehörigen einzubeziehen. Sie kennen die Vorlieben und Bedürfnisse des Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf besonders gut und haben meist einen besseren Zugang zu der betroffenen Person. Oft, besonders in der häuslichen Pflegesituation, nehmen sie die Mundpflege auch selbst vor. Wichtig ist vor allem, die Menschen mit Unterstützungsbedarf im Vorfeld einer Maßnahme regelmäßig zu informieren und sie über die Bedeutung der Maßnahme aufzuklären.2
Auch können Informations-, Schulung- und Beratungsmaterialien eingesetzt werden, z. B. Infoflyer, Schulungsvideos oder Checklisten. Die Einrichtungen sind in der Pflicht, entsprechende Materialien zur Verfügung zu stellen. Die Expertenarbeitsgruppe hat unterschiedliche Materialien geprüft. Gut befundene Beispiele für Informations- und Beratungsmaterialien zu Problemen der Mundgesundheit, auf die kostenlos zugegriffen werden kann, finden sich im Anhang des Expertenstandards oder auch hier.