Depression bei chronischen Wunden: Hintergründe und Praxisempfehlungen

Depression bei chronischen Wunden: Hintergründe und Praxisempfehlungen

Sollte eine Depression bei Menschen mit chronischen Wunden ähnlich behandelt werden wie Schmerzen? Dafür sprechen viele Argumente. Wichtig ist, die Anzeichen für eine depressive Erkrankung frühzeitig zu erkennen und zu handeln.

Depression und chronische Wunden: Warum sie oft zusammen auftreten

Mindestens jeder dritte Patient mit einer chronischen Wunde leidet unter depressiven Symptomen und Angststörungen – dreimal so häufig wie in der Normalbevölkerung ohne Wunderkrankungen.2 Warum gehören Depression zu den häufigen Begleiterkrankungen bei Menschen mit chronischen Wunden? Dahinter stehen zahlreiche und miteinander interagierende Gründe, zum Beispiel:2,3

  • Die Wunde selbst: Riechende oder stark exsudierende Wunden können zu Scham, einem Verlust der Selbstachtung, einem negativen Körperbild, sozialer Isolation und schließlich zu depressiven Erkrankungen oder Angststörungen führen. Diese Gefühle können sich verstärken, wenn die Betroffenen erfolglos versuchen, die Begleiterscheinungen einer Wunde zu lindern.2,3
  • Schmerzen: Ständige Schmerzen aufgrund einer chronischen Wunde können die Lebensqualität vermindern und sind ein unabhängiger Risikofaktor für die Entwicklung einer Depression. Darüber hinaus sind Schmerzen der Hauptgrund für Schlafstörungen bei Menschen mit chronischen Wunden.2,3
  • Begleiterkrankungen: Menschen mit chronischen Wunden sind oft zeitgleich von anderen häufig chronischen Erkrankungen wie Diabetes betroffen, die ebenfalls das Risiko einer Depression erhöhen können.1,2
  • Das Lebensalter: Verschiedene Studien zeigen, dass depressive Erkrankungen bei Menschen im höheren Lebensalter per se zunehmen (Altersdepression) und das Depressionsrisiko aufgrund einer chronischen Wunde somit verstärken könnten.2
  • Schlafstörungen: Menschen mit chronischen Wunden berichten häufig von Schlafstörungen. Mangelnder Schlaf kann zu Erschöpfung (Fatigue) führen sowie zum verstärkten Grübeln und Sich-Sorgen-Machen beitragen (Tab.1). Umgekehrt können Depressionen die Schlafstörungen verstärken.3
  • Mobilitätseinschränkungen: Viele Menschen mit chronischen Wunden meiden aufgrund von Schmerzen, aber auch aus Angst vor Schmerzen oder einer Verschlimmerung dieser, mobile Alltagsaktivitäten wie Spaziergänge und Einkaufengehen. Die eingeschränkte Mobilität behindert unter anderem die Berufstätigkeit und das Erledigen von Alltagsaufgaben. Sie führt somit zu einem erheblichen Verlust von Lebensqualität.2,3

Teufelskreis: Wie Depression negativ auf chronische Wunden wirken kann

Zwischen chronischen Wunden und Depression besteht überdies ein wechselseitiges Verhältnis. Denn depressive Erkrankungen können umgekehrt die Wundheilung und das Therapiemanagement beeinträchtigen.4

  • Stress, psychische Belastungen, Depression und Angststörungen können die Wundheilung verlangsamen.
  • Menschen mit depressiven Erkrankungen aufgrund von Stressbelastungen neigen häufiger zu einem „gesundheitsschädlichen“ Lebensstil (z. B. übermäßige fett- und zuckerreiche Ernährung, mangelnde Bewegung, Alkoholkonsum und Rauchen, Vernachlässigung der Körperhygiene), der ebenfalls die Wundheilung beeinträchtigen kann.
  • Stress und Angst können das Schmerzempfinden bei manchen Patienten beispielsweise beim Verbandwechsel verstärken. Diese Erfahrung kann bei ihnen zu mangelnder Therapieadhärenz führen.
Psychoimmunologische Zusammenhänge

Warum heilen Wunden schlechter bei Menschen unter Stress oder mit Depression? Das Stichwort lautet „Psychoimmunologie“ – das heißt, dass die Psyche über verschiedene Mechanismen auf das Immunsystem wirkt, was wiederum Wundheilungsprozesse beeinflusst. So aktiviert psychischer Stress die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA-A) und die Sympathikus-Nebennierenmark-Achse (SAM-A). In der Folge steigen die Spiegel des Kortisons und der Katecholamine (Adrenalin, Noradrenalin), die wiederum direkt negativ auf den Heilungsprozess wirken.1, 2

Depression bei Menschen mit chronischen Wunden frühzeitig erkennen

Angesichts dieses Wunde-Depression-Wunde-Teufelskreises ist es wichtig, depressive Symptome bei Menschen mit chronischen Wunden frühzeitig zu erkennen, um sie adäquat zu behandeln – auch wenn der Praxisalltag von der eigentlichen Wundbehandlung dominiert wird.

Erste Hinweise auf eine depressive Erkrankung können Veränderungen beispielsweise des Verhaltens, Schlafs oder Appetits geben (Tab. 1).4

VeränderungenBeobachtungen
Stimmung und Gemütsverfassung
  • Traurigkeit
  • Sichtbare Anspannung
  • Reizbarkeit
  • Ständiges Grübeln
  • Sorgenvoll
  • Ablehnung von Veränderungen
Schlafverhalten
  • Übermäßiger Schlaf oder Schlafmangel
  • Lethargie
  • Langsame Reaktionen
Essgewohnheiten
  • Appetitlosigkeit oder plötzliche Gewichtszunahme
Einstellung gegenüber der Zukunft
  • Hoffnungslosigkeit
  • Verlust von Interesse, Selbstvertrauen und/oder Freude
  • Aussichtslose Lebensperspektive 
  • Nicht-Adhärenz
Konzentrationsfähigkeit
  • Häufige Gedächtnislücken
  • Schwierigkeiten bei der Erledigung von Aufgaben

Tab. 1: Subtile Anzeichen für Depression oder Angststörungen bei Menschen mit chronischen Wunden4

Daneben können validierte Fragebögen zur Lebensqualitätsmessung helfen, eine Depression frühzeitig zu erkennen. In Deutschland hat sich dazu der Wound-QoL als Standard-Fragebogen etabliert, den es in zwei Versionen gibt. Zum Beispiel besteht der Wound-QoL-17 aus 17 Fragen zur persönlichen Befindlichkeit in Bezug auf die Wunde. Er baut auf drei anderen wundspezifischen Lebensqualitätsfragebögen auf.5,6

Im Beitrag „Scoring-Systeme in der Wundversorgung“ finden Sie den Wound-QoL-17-Fragebogen und weitere Scoring-Systeme mit vielen Hintergrundinformationen.

Depression bei Menschen mit chronischen Wunden richtig behandeln

Fragebögen wie der Wound-QoL geben zwar einen Hinweis auf einen Handlungsbedarf, sie helfen jedoch nicht weiter, wenn es um die angemessene Behandlung geht. Bei einem auffälligen Ergebnis ist es wichtig, Fachärzte beziehungsweise Therapeuten hinzuzuziehen, die die weitere Behandlung übernehmen.4

Abhängig vom Schweregrad der Depression kommen verschiedene Therapiemöglichkeiten in Frage – vom niederschwelligen Beratungsgespräch und Online-Programmen über verschiedene Psychotherapie-Formen bis hin zur medikamentösen Behandlung.7

Fallbeispiel: Depressionsbehandlung hilft bei chronischen Wunden

Dieses reale Fallbeispiel zeigt, wie die adäquate Therapie einer depressiven Erkrankung den Wundheilungsverlauf positiv beeinflussen kann.8

Hintergrund:

  • Eine 67-jährige Patientin litt an einem Ulcus cruris venosum am rechten medialen Unterschenkel (Erstdiagnose vor 20 Jahren).
  • Mit 37 Jahren erkrankte sie nach einer Schwangerschaft an einer tiefen Beinvenenthrombose. Sonst bestanden keine Risikofaktoren.
  • Das Ulcus war seit 22 Monaten offen und ließ sich trotz aufwändiger und intensiver konservativer wie chirurgischer Maßnahmen nicht dauerhaft schließen.
  • Sie stellte sich wegen starker Ulcus-bezogener und retrosternaler Schmerzen (hinter dem Brustbein gelegen) vor. Aufgrund des Ulcus bestanden wenige soziale Kontakte. Sie litt seit mehreren Jahren unter einer Depression.

Behandlung:8

  • Die Frau wurde zunächst fünf Wochen in einer Universitätshautklinik und dann weitere sechs Wochen in einer auf chronische Wunden spezialisierten Klinik behandelt.
  • In dieser Zeit entwickelt sie plötzlich Suizidgedanken und eine schwere Depression, sodass eine akute psychiatrische Behandlung (Antidepressiva, Psychotherapie) erforderlich wurde.
  • Unter der psychiatrischen Therapie kam es innerhalb von zwei Wochen zu einer erkennbaren Epithelisierung und weitere drei Wochen später zu einer vollständigen Abheilung des Ulcus. Alle anderen Behandlungsmaßnahmen wie Kompressionstherapie wurden in dieser Zeit wie zuvor fortgesetzt und konnten allein nicht zur Heilung geführt haben.
Weitere Fallbeispiele zum Thema Psyche und Wunde

Sonderfall: Diabetes, Depression und chronische Wunden

Einige Studiendaten deuten an, dass Menschen mit einem Diabetischen Fußsyndrom (DFS) besonders häufig von Depression betroffen sind − Frauen (48 %) häufiger als Männer (27 %).2

Die Zusammenhänge sind beim DFS erheblich komplexer als bei anderen chronischen Wunden – wie diese lange Liste vielfältiger Hintergründe zeigt:

  • Hohe Depressionsprävalenz bei Diabetes

Menschen mit Diabetes sind per se circa doppelt so oft von Depression betroffen wie Stoffwechselgesunde – bei Typ-1-Diabetes treten sie häufiger auf als bei Typ-2-Diabetes. Umgekehrt haben Menschen mit Depression ein höheres Risiko, Diabetes zu entwickeln. Dabei spielen sowohl psychologische als auch physiologische Ursachen eine Rolle.9

  • Psychologische Ursachen von Depression bei Diabetes

Einen starken Einfluss auf die Entwicklung einer Depression haben die hohen psychischen Belastungen durch die Erkrankung selbst („Diabetes Distress“). Jeden Tag und rund um die Uhr geht es bei ihnen um Medikamente, Blutzuckerselbstmessung und weitere Maßnahmen des Diabetes-Selbstmanagements, wie ständig auf die richtige Balance zwischen Kohlenhydratzufuhr und Blutzuckersenkung zu achten. Dazu kommen − gerade bei Typ-2-Diabetes − Schuld- und Schamgefühle („selbstverschuldete“ Erkrankung) sowie die Sorgen und Ohnmachtsgefühle aufgrund nicht vorhersehbarer Blutzuckerschwankungen – um nur einige Belastungen zu nennen. Neben dem Diabetes Distress wird ein weiterer psychologischer Risikofaktor für Depressionen häufig übersehen: Viele Menschen mit Diabetes leiden an Essstörungen, die häufig mit depressiven Erkrankungen einhergehen.9

  • Physiologische Ursachen von Depression bei Diabetes

Neben den psychologische werden eine Reihe von physiologischen Ursachen für die Entwicklung von Depressionen bei Menschen mit Diabetes diskutiert. Zum einen sind die Aktivierung des angeborenen Immunsystems und Entzündungsreaktionen wesentliche Pathomechanismen bei der Entstehung von Typ-2-Diabetes. Es gibt Hinweise, dass Entzündungsreaktionen auch bei Depression eine ursächliche Rolle spielen. Zum anderen wird vermutet, dass eine stressbedingte Fehlregulierung der HPA-A sowohl zur Entstehung von Typ-2-Diabetes als auch von depressiven Erkrankungen beitragen könnte. Schließlich beobachtet man bei Menschen mit Typ-2-Diabetes beziehungsweise Depression Störungen des zirkadianen Rhythmus‘ (innere Uhr) und des Schlafverhaltens. Beides geht mit erhöhten Werten für Entzündungsmarker einher, die wiederum eine pathologische Rolle bei Entwicklung von Typ-2-Diabetes und Depression spielen könnten.9

  • Depression verschlimmert Diabetes

Verschiedene Studien zeigen, dass depressive Erkrankungen den Verlauf des Diabetes verschlechtern. Depressionen stehen in Verbindung mit dem Auftreten von Hyperglykämien sowie von mikro- und makrovaskulären Komplikationen.9 Beispielsweise erhöht eine Depression das Risiko für Major-Amputationen bei Patienten mit DFS um 33 %.10

  • Begleiterkrankungen und Amputationen können Depression verschlimmern

Viele Menschen mit Diabetes sind zudem von anderen Erkrankungen und Beeinträchtigungen betroffen, die die Lebensqualität verringern und zu einer Depression beitragen können. Dazu gehören Adipositas, Herz- und Niereninsuffizienz, Sehbehinderungen und erst recht die Einschränkungen durch Amputationen oder Folgeamputationen.11

  • Suizidrisiko bei Menschen mit Diabetes

Angesichts der erhöhten Depressionsprävalenz haben verschiedene Studien das Suizidrisiko bei Menschen mit Diabetes untersucht, zumal es durch die einfache Möglichkeit einer Überdosierung antidiabetischer Medikamente verstärkt werden könnte. Einige Ergebnisse deuten an, dass die Selbstmordrate bei Diabetes erhöht sein könnte.11

Fazit

Depression ist eine ernstzunehmende Begleiterkrankung bei Menschen mit chronischen Wunden. Wichtig ist, depressive Erkrankungen im Praxisalltag der Wundversorgung zu erkennen und zu behandeln. Dafür braucht es eine enge Zusammenarbeit mit den Betroffenen selbst, aber auch zwischen Pflegekräften, Ärzten und Therapeuten.2

Literatur

Die Autorin Michelle Eisenberg
Michelle Eisenberg, examinierte Pflegekraft

Michelle Eisenberg ist examinierte Pflegekraft mit der Zusatzqualifikation Praxisanleitung in der Pflege.
Sie hat sowohl in der ambulanten als auch stationären Pflege Erfahrung gesammelt.
Seit einiger Zeit arbeitet Frau Eisenberg im Kundenservice von Dr. Ausbüttel im Bereich Beratung.