Dekubitus-Assessment

Dekubitus-Assessment

Das Dekubitus-Assessment ist ein mehrstufiger Prozess, der darauf abzielt, das Dekubitusrisiko zu bewerten und entsprechende Präventionsmaßnahmen einzuleiten, damit ein Dekubitus gar nicht erst entsteht. 

Die Schritte umfassen in der Regel eine Risikoeinschätzung durch qualifiziertes, erfahrenes medizinisches Personal mithilfe standardisierter Skalen wie der Braden-Skala oder der Norton-Skala, eine Haut- und Gewebebeurteilung, die Planung von präventiven Maßnahmen und die regelmäßige Überprüfung sowie Anpassung der Pflegeinterventionen.

Dieser Artikel gibt einen Überblick über den Prozess des Dekubitus-Assessments sowie gängige Skalen zur objektiven Einschätzung des Dekubitusrisikos, einschließlich ihrer Limitationen und Anwendungsgebiete.

Schritte des Dekubitus Assessments

Der Prozess des Dekubitus Assessments umfasst mehrere Schritte: 

  1. Dekubitusrisiko einschätzen durch Screening
  2. Risikobewertung
  3. Pflegeplanung
  4. Regelmäßige Überprüfung

Dekubitusrisiko einschätzen durch Screening

Das Screening ist eine initiale Überprüfung, um ein mögliches Dekubitusrisiko auszuschließen. Diese umfasst die klinische Einschätzung des individuellen Dekubitusrisikos und erfolgt zu Beginn des Pflegeauftrags. Das betrifft alle Personen, die z. B. in eine Pflege- oder Rehaeinrichtung oder stationär in ein Krankenhaus aufgenommen werden. 

Bei einigen Personen kann ein Dekubitusrisiko weitestgehend ausgeschlossen werden. Beispielsweise, wenn diese aktiv und mobil sind, keine Grunderkrankungen wie Diabetes mellitus aufweisen und nicht unter eingeschränkter Schmerzwahrnehmung leiden. 

Andere Menschen hingegen sind per se als dekubitus-gefährdet einzuschätzen. Das betrifft z. B. Personen mit Querschnittslähmung oder solche, die bettlägerig oder auf den Rollstuhl angewiesen sind. 

Differenzierte Risikoeinschätzung und Risikobewertung

Die differenzierte Risikoeinschätzung schließt sich direkt an das Screening an, wenn ein bestehendes Dekubitusrisiko nicht ausgeschlossen werden kann. Für die Bewertung des individuellen Dekubitusrisikos werden direkte und indirekte Risikofaktoren unterschieden.

Der einzige klinisch relevante Faktor ist der direkte Risikofaktor Druck. Dementsprechend sind alle Menschen mit Mobilitätseinschränkungen oder gestörtem Empfindungsvermögen für Druck als Dekubitus-gefährdet einzuschätzen und das Risiko entsprechend hoch zu bewerten. 

Zu den indirekten Risikofaktoren gehören z. B. Alter, Grunderkrankungen, anatomische Besonderheiten oder die Einnahme bestimmter Medikamente. Diese können unter Verwendung von Risikoskalen wie der Braden-Skala oder der Norton-Skala eingeschätzt werden.

Die Einschätzung des Dekubitusrisikos sollte durch qualifiziertes, erfahrenes medizinisches Personal erfolgen. Zudem müssen die Pflegekräfte im praktischen Umgang mit den in ihrer Einrichtung verwendeten Skalen geschult sein, wobei eine alleinige Anwendung der Skalen nicht empfohlen wird.1

Pflegeplanung

Die Pflegeplanung umfasst die Planung der individuell erforderlichen Maßnahmen basierend auf der Risikobewertung. Dies sind insbesondere präventive Maßnahmen zur Vermeidung eines Dekubitus. Wenn bereits ein Dekubitus vorhanden ist, sind auch Behandlungsstrategien Bestandteil der Pflegeplanung. 

Regelmäßige Überprüfung

Da sich der Zustand der Patientinnen und Patienten sowohl positiv als auch negativ verändern kann, muss das Dekubitusrisiko in individuell festgelegten Abständen wiederholt erhoben werden. Die Zeitabstände richten sich nach dem allgemeinen Status der Betroffenen und sind je nach Bedarf anzupassen. 

Beratung Betroffener sowie deren Angehöriger

Die Beratung von Betroffenen sowie deren Angehöriger ist zwar kein direkter Bestandteil des Dekubitus-Assessments, aber eng damit verknüpft. Denn diese erfolgt auf der Grundlage des Dekubitus-Assessments. Das Ziel der Beratung ist, sowohl Betroffenen als auch deren Angehörigen ein Verständnis für die Erkrankung zu vermitteln, damit diese aktiv an der Dekubitusprophylaxe mitwirken können.

Die Pflegekräfte informieren daher verständlich über das ermittelte Risiko und erklären die notwendigen präventiven Maßnahmen wie z. B. Mobilitätsförderung, Ernährungsanpassungen oder spezielle Hilfsmittel.

Wie das Dekubitus-Assessment selbst muss auch die Beratung regelmäßig wiederholt werden, um auf Veränderungen des Zustands der Betroffenen reagieren zu können.

Bei der Durchführung einer Dekubitusrisiko-Einschätzung verwendete Skalen

Zur Risikoeinschätzung von Dekubitus sind weit über 40 verschiedene Assessmentinstrumente beschrieben.2 Am häufigsten angewendet werden jedoch die Braden-, Norton- und Waterlow-Skalen, die daher im Folgenden näher erläutert werden.

Pflegende Angehörige, Patient im Rollstuhl
Dekubitusrisiko Rollstuhl, Patient mit pflegender Angehörigen

Braden-Skala

Die Skala nach Braden wurde im Jahr 1987 von den amerikanischen Pflegewissenschaftlerinnen Barbara J. Braden und Nancy Bergstrom entwickelt.

Die Braden-Skala besteht aus den 6 Items: 

  1. Sensorisches Empfindungsvermögen: 1 (fehlt) bis 4 Punkte (vorhanden),
  2. Aktivität: 1 (bettlägerig) bis 4 Punkte (geht regelmäßig),
  3. Mobilität: 1 (komplett immobil) bis 4 Punkte (mobil),
  4. Feuchtigkeit: 1 (ständig feucht) bis 4 Punkte (selten feucht),
  5. Ernährung: 1 (sehr schlechte Ernährung) bis 4 Punkte (gute Ernährung),
  6. Reibung und Scherkräfte: 1 (Problem) bis 3 Punkte (kein Problem zurzeit).

Wie bei der Norton-Skala werden die Punkte der Einzelitems addiert. Daraus ergibt sich eine maximal erreichbare Gesamtpunktzahl von 23 Punkten. Je geringer die Gesamtpunktzahl ist, desto höher ist das Dekubitusrisiko.

Eine Erweiterung der Braden-Skala stellt die Braden Q-Skala dar, die Gewebedurchblutung und Sauerstoffversorgung als zusätzliches Item beinhaltet.

Norton-Skala

Die Skala nach Norton wurde im Jahr 1962 als erste Skala zur Risikoeinschätzung von Dekubitus von der Krankenschwester Doreen Norton entwickelt und 1980 ins Deutsche übertragen.

Die ursprüngliche Norton-Skala bewertet die fünf Einflussfaktoren (=Items): 

  1. Körperlicher Zustand,
  2. Geistiger Zustand,
  3. Aktivität,
  4. Beweglichkeit,
  5. Inkontinenz.

Auf einer vierstufigen Skala wird jeder dieser Items mit Punkten bewertet. Dabei reicht die Punktzahl je Item von einem Punkt bei hoher Gefährdung bis vier Punkten bei geringer Gefährdung. Anschließend werden die Punkte der Einzelitems summiert. Eine Dekubitusgefahr besteht bei einer Gesamtpunktzahl von 14 oder weniger Punkten. 

Modifikationen der Norton-Skala

Nach der Einführung der ursprünglichen Norton-Skala haben einige Autoren Modifikationen dieser Skala vorgeschlagen. Darunter fallen z. B. die 

  • Gosnell-Skala, in der zusätzlich die Faktoren Ernährung und Schmerz berücksichtigt werden;
  • Medley-Skala, in der zusätzlich die Faktoren gefährdende Krankheiten, Ernährung und Schmerz berücksichtigt werden;
  • nach Bienstein erweiterte Norton-Skala, die zusätzlich die Faktoren Bereitschaft zur Kooperation/Motivation, Alter, Hautzustand und Zusatzerkrankungen umfasst. 

Waterlow-Skala

Die Waterlow-Skala und ihre Anwendung wurde von der englischen Krankenschwester Judy Waterlow erstmals im Jahr 1985 veröffentlicht und im Jahr 2005 aktualisiert. Die Skala besteht aus den 11 Items: 

  1. Verhältnis von Gewicht und Größe: 0 (durchschnittlich) bis 3 Punkte (unter Durchschnitt),
  2. Kontinenz: 0 (total kontinent / katheterisiert) bis 3 Punkte (stuhl- und harninkontinent),
  3. Hauttyp: 0 (gesund) bis 3 Punkte (geschädigt / wund),
  4. Mobilität: 0 (normal) bis 5 Punkte (stark behindert: nur Sitzposition möglich),
  5. Geschlecht: 1 (männlich) oder 2 Punkte (weiblich)
  6. Alter: 1 (zwischen 14–49 Jahre) bis 5 Punkte (>80 Jahre),
  7. Mangelernährung Screening Tool (MST): 0 bis 4 Punkte abhängig von der Gewichtsverlustskala bzw. Essverhalten.

Besondere Risiken (Punkte werden nur bei Vorliegen vergeben):

  1. Mangelversorgt: 1, 2, 5 oder 8 Punkte möglich,
  2. Neurologische Defizite: 4 bis 6 Punkte,
  3. Große Operationen / Verletzungen: 5 oder 8 Punkte
  4. Medikation: 4 Punkte.

Für die Gesamtbeurteilung werden die Punkte der Einzelitems addiert. Je höher die Gesamtpunktzahl ist, desto höher ist das Dekubitusrisiko. Bei einer Punktezahl von 10 bis 14 Punkten besteht bereits ein Risiko, bei 15 bis 19 Punkten besteht ein hohes Risiko und bei über 20 Punkten ein sehr hohes Risiko.

Unterschiede zwischen der Braden-, Norton- und Waterlow-Skala

Die Braden-Skala ist die am häufigsten verwendete und untersuchte Skala zur Risikoeinschätzung bei Dekubitus. Gleichzeitig erreicht die Skala nach Braden im Vergleich zu anderen Skalen die beste Validität und Reliabilität in unterschiedlichen Settings.3-8 Die Waterlow-Skala hingegen schneidet hinsichtlich der Validität und Reliabilität deutlich schlechter ab.3,6,9

Die Braden-, Norton- und Waterlow-Skala unterscheiden sich u. a. hinsichtlich ihrer Einsatzbereiche sowie der Anzahl der Items sowie berücksichtigten Risikofaktoren. Eine Übersicht über die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale gibt Tabelle 1.

Tabelle 1: Wesentliche Unterscheidungsmerkmale der Braden-, Norton- und Waterlow-Skala2

 Norton-SkalaaBraden SkalaWaterlow-Skala
AnwendungsgebietGeriatrie (Pflegeeinrichtungen)Klinischer BereichKlinischer und intensivmedizinischer Bereich
VerwendungHäufigHäufigSeltener
Anzahl der Items  5611
RisikofaktorenKörperlicher Zustand
Geistiger Zustand
Aktivität
Beweglichkeit
Inkontinenz
Sensorisches Empfindungsvermögen
Aktivität
Mobilität
Feuchtigkeit
Ernährung
Reibung und Scherkräfte
Verhältnis von Gewicht und Größe
Kontinenz
Hauttyp
Mobilität
Geschlecht
Alter
Mangelernährung Screening Tool (MST)
 
Besondere Risiken:
Mangelversorgt
Neurologische Defizite
Große Operationen / Verletzungen
Medikation
Bewertung des DekubitusrisikosJe geringer die Gesamtpunktzahl ist, desto höher ist das Dekubitusrisiko, bei 14 oder weniger Punkten besteht ein RisikoJe geringer die Gesamtpunktzahl ist, desto höher ist das DekubitusrisikoJe höher die Gesamtpunktzahl ist, desto höher ist das Dekubitusrisiko, ein Risiko besteht ab 10 oder mehr Punkten
ValiditätbGutGut in verschiedenen Settings (Langzeiteinrichtungen, Intensivstationen, Krankenhäuser)Schlechter als die Norton- und Bradenskala
Sensitivitätc62,3 bis 89 %67 bis 95 %71,4 bis 86 %
SpezifitätdGut: 61 bis 75 %Mittel bis gut: 29 bis 83,1 %Gering: 4,2 bis 79 %

a Bezieht sich ausschließlich auf die ursprüngliche Norton-Skala. Von der nach Bienstein modifizierten Norton-Skala wird im geriatrischen Bereich explizit abgeraten.
b Genauigkeit, mit der das Dekubitusrisiko eingeschätzt werden kann
c Anteil der Personen, die korrekt mit hohem Dekubitusrisiko bewertet wurden
d Anteil der Personen, die korrekt mit geringem Dekubitusrisiko bewertet wurden

Alle drei Skalen verfolgen das Ziel, eine objektive Einschätzung des individuellen Dekubitusrisikos zu ermöglichen. Hierfür berücksichtigen die Skalen unterschiedliche Risikofaktoren und Auswertungsansätze.

Eine universell einsetzbare Skala gibt es nicht. Vielmehr hängt die Wahl der Skala u. a. vom jeweiligen Setting, dem spezifischen Patientenklientel sowie der Schulung der Pflegekräfte ab. 

Insgesamt sind Messinstrumente zur Risikoeinschätzung eines Dekubitus unumgänglich, aber diese dürfen nur zusammen mit der klinischen Beurteilung in das Dekubitus-Assessment einfließen.

Diagnose sensibler Störungen mit Rydel-Seifferscher Stimmgabel
Test des sensorisches Empfindungsvermögens

Literatur

Die Autorin Dr. Roxane Lorenz
Dr. Roxane Lorenz

Nach ihrem Studium der Biologie an der Ruhr-Universität Bochum promovierte Dr. Lorenz zum Dr. rer. nat. Seit 2012 ist sie in der medizinisch-wissenschaftlichen Abteilung bei Dr. Ausbüttel tätig, seit 2018 auch als Leiterin dieser Abteilung sowie der Forschungsabteilung.