Blutegeltherapie: Tierische Unterstützung in der Wundversorgung
Medizinische Blutegel werden schon seit Jahrtausenden bei verschiedenen Indikationen angewendet – auch im Bereich der Wundversorgung. Was weiß man über die Wirksamkeit der Blutegeltherapie (Hirudotherapie) und welche Regeln gelten für ihre Anwendung?
Was heißt Blutegeltherapie (Hirudotherapie)?
Bei der medizinischen Blutegeltherapie (oder: Hirudotherapie) handelt es sich um eine komplementärmedizinische Behandlungsmethode, die bereits im „alten Ägypten“ angewendet wurde. Dabei werden spezielle (medizinische) Blutegel, vor allem der Spezies Hirudo medicinalis, auf die Haut von Patienten und Patientinnen mit unterschiedlichen Erkrankungen aufgebracht.1,2
Die Blutegel haften sich 20 bis 120 Minuten lang an und saugen 5 bis 20 ml Blut. Dann lassen sie spontan los und fallen vom menschlichen Wirt ab.3
Während des Saugvorgangs sezernieren sie mit ihrem Speichel über 100 verschiedene bioaktive Substanzen, darunter Hirudin, Antistasin, Calin, Eglin C, Guamerin, Saratin, Bdelline sowie verschiedene Enzyme wie Hyaluronidase. Diese Stoffe können im Körper unter anderem die folgenden Wirkungen entfalten:2,3
- Analgetisch (schmerzlindernd)
- Entzündungshemmend
- Plättchenhemmend
- Gerinnungshemmend
- Thrombinregulierend
- Antimikrobiell
Außerdem können einige der Speichelinhaltsstoffe die extrazelluläre Matrix abbauen.2
Indikationen für die Blutegeltherapie (Hirudotherapie)
Das Einsatzgebiet der Blutegeltherapie ist sehr breit, wie diese Beispiele zeigen:1-3
- Entzündungsreaktionen
- Passive Stauung
- Plastische und rekonstruktive Chirurgie
- Hauterkrankungen wie Dermatitis, Psoriasis und chronische Wunden/Hautgeschwüre
- Kardiovaskuläre Erkrankungen
- Bluthochdruck
- Krampfadern
- Hämorrhoiden
- Arthrose, Osteoarthritis, Periarthritis und rheumatoide Arthritis
- Thrombophlebitis, Thrombose und Embolie
- Außenohrentzündung und chronische Mittelohrentzündung
- Augenkrankheiten wie Katarakt, Glaukom, traumatische Verletzungen und Entzündungen
- Zahnfleischerkrankungen wie Gingivitis, Parodontitis und Zahnfleischödeme
- Schmerzhafte Wirbelsäulenerkrankungen
- Hepatitis, Cholezystitis, Pankreatitis, Magengeschwüre
- Erkrankungen der Atemwege wie Asthma und akute Rhinopharyngitis
- Männliche und weibliche Unfruchtbarkeit, Endometriose und Mastitis
Bei diesen Erkrankungen werden Blutegel unter anderem mit den folgenden Zielen eingesetzt:3
- Wirksame Absaugung von Hämatomen in tieferen Geweben
- Schmerzlinderung
- Reduktion der venösen Stauung
Ein heute wichtiger Einsatzbereich ist die plastischen und rekonstruktive Chirurgie – insbesondere nach einer Lappenplastik, um die Durchblutung des verpflanzten Gewebes („Lappen“) zu verbessern und dessen „Überleben“ zu unterstützen.2,3
Blutegeltherapie bei chronischen Wunden
Für die Anwendung der Blutegeltherapie bei chronischen Wunden liegen zu 2 Indikationen wenige Studiendaten beziehungsweise publizierte Einzelfallbeschreibungen vor:
- Ulcus cruris: Medizinische Blutegel können bei Menschen mit Ulcus cruris Ödeme reduzieren und den Heilungsprozess verbessern. Eine randomisierte Studie verglich die Blutegeltherapie mit der Kompressionstherapie. Nach 2 Monaten zeigten die Patientinnen und Patienten in der Blutegel-Gruppe eine signifikante Reduktion bei Schmerzen, Ödemen und Hyperpigmentierung.1In verschiedenen Einzelfallberichten konnte die Blutegeltherapie bei Menschen mit zum Teil refraktärem Ulcus cruris Erfolge erzielen.4 Allerdings kann bei Patientinnen und Patienten mit Ulcus cruris eine Kontraindikation für die Blutegeltherapie bestehen, wenn sie mit Antikoagulanzien (Blutverdünner) behandelt werden. Schließlich gilt die Kompressionstherapie als das Mittel der Wahl bei Ulcus cruris, das nicht durch eine Blutegeltherapie ersetzt werden kann.1
- Diabetisches Fußsyndrom: Verschiedene Einzelfallberichte zeigen eine erfolgreiche Anwendung der Blutegeltherapie insbesondere beim therapieresistenten diabetischen Fußsyndrom – einschließlich der Verhinderung von Amputationen.1,4 Bei dieser Indikation ist jedoch eine sorgfältige Überwachung der Behandlung wichtig, um eine Blutegel-verursachte Infektion zu vermeiden.1
Obwohl diese Beispiele eine Wirksamkeit der Blutegeltherapie bei diesen Formen chronischer Wunden andeuten, fehlt es an Evidenz aus großangelegten kontrollierten klinischen Studien.1,4
Blutegeltherapie bei postoperativen Wunden
Medizinische Blutegel werden postoperativ in der rekonstruktiven und plastischen Chirurgie angewendet – insbesondere, um das Überleben von freien oder gestielten Lappen zu verbessern, wenn der venöse Abfluss beeinträchtigt ist. Dazu werden sie in der kritischen Phase nach der Operation in den dunklen Bereichen des Lappens eingesetzt – zu Beginn häufiger als einmal täglich und so lange, bis sich das Lappengewebe erholt hat (meistens nach einer Woche). Der Einsatz der Blutegel unterstützt den Abbau der venösen Stauung und die Zufuhr von frischem arteriellem Blut in den Bereich der Lappenplastik.1 Bei dieser Anwendung spielt die Substanz Hirudin aus dem Speichel der Blutegel eine wichtige Rolle. Sie hemmt die Gerinnungsprozesse, die für eine venöse Stauung und schlechte Durchblutung mitverantwortlich sind.5
Studiendaten zufolge liegt die Erfolgsrate (partielles oder vollständiges Überleben des Gewebelappens) der Blutegeltherapie zwischen 65 % und 85 %.1,6
Eine weitere postoperative Einsatzmöglichkeit von Blutegeln ist nach der Replantation von Körpergliedmaßen. Die Blutegeltherapie verstärkt die Durchblutung in der fraglichen Körperregion. Außerdem fördert deren Speichelstoff Hirudin die Synthese von Faktoren, die das Wachstum von Blutgefäßen anregen.1
Blutegeltherapie bei Hämatomen
Medizinische Blutegel können helfen, postoperative und posttraumatische Hämatome zu reduzieren, was beispielsweise für das Überleben von Lappenplastiken und Transplantaten wichtig ist. Allerdings wurden zu diesem Anwendungsgebiet bislang keine Studiendaten veröffentlicht.1
Bei medizinischen Blutegeln handelt es sich in Deutschland rechtlich um Arzneimittel, für deren Zulassung, Zucht, Verkauf über Apotheken und Entsorgung strenge Auflagen gelten. Sie müssen zum Beispiel nach der Biostoffverordnung entsorgt werden. Ein Aussetzen von verwendeten Blutegeln in der Natur („Rentnerteiche“) ist verboten.7
Blutegeltherapie richtig anwenden
Wichtig ist, vor der Anwendung der Blutegeltherapie etwaige Kontraindikationen ärztlich auszuschließen.3 Pflegefachpersonen können die Vorbereitung, die Applikation, das Monitoring und die Nachbereitung einer Blutegeltherapie übernehmen.1,3,8
Vorbereitung: Die Behandlung beginnt mit einer sorgfältigen Reinigung der fraglichen Körperbereiche beispielsweise mit steriler Ringer- oder physiologischer Kochsalzlösung beziehungsweise sterilem Wasser.1
Applikation:
- Blutegel können sich schnell auf der Haut der Patientinnen und Patienten bewegen. Für ihre Platzierung wird daher zum Beispiel die Tülle einer 5-ml-Spritze abgeschnitten und der Blutegel hineingegeben. Das offene Ende der Spritze wird direkt auf die zu behandelnde Körperstelle gesetzt. Sobald der Blutegel sich festgesaugt hat und „frisst“, wird die Spritze entfernt. Es gibt auch Empfehlungen, die Blutegel mit Verankerungsnähten zu fixieren. Allerdings ist unklar, ob dies das Saugverhalten beeinflusst.
- Die Anzahl der Blutegel hängt von der Fläche der Körperstelle ab.1
Monitoring:
Blutegel können auf der Körperoberfläche „wandern“. Daher sollte ihre Position alle 10 bis 15 Minuten kontrolliert werden. Falls ein Blutegel sich bewegt, kann er durch das Beträufeln mit Alkohol, Salzwasser oder Essig vorsichtig abgelöst werden. Eine andere Möglichkeit ist, den Blutegel mit kreisförmig angeordneter Gaze am Wandern zu hindern.3
Weitere empfohlene Kontrollen über den Erfolg der Blutegel-Therapie sind:3,8
- Blutgerinnsel-Entfernung alle 2 bis 4 Stunden
- Hauttemperatur-Messung alle 3 Stunden (Zieltemperatur über 30 Grad Celsius)
- Hautbeurteilung, Pulsmessung und hämatologische Untersuchungen (Hb-Wert, Hämatokrit, Blutgerinnung) alle 4 Stunden
Nachbereitung:
Die Blutegel verbleiben so lange auf der Körperstelle, bis sie sich von selbst ablösen (bis zu 60 Minuten). Sie sollten nicht gewaltsam entfernt werden, weil es sonst zu einer Regurgitation des Mageninhalts des Blutegels in die Wunde kommen oder Zähne des Blutegels in der Haut verbleiben könnten. Die Bisswunden werden anschließend desinfiziert und mit einem sterilen Verband abgedeckt. Sie bluten nach und können noch circa 24 Stunden lang nässen.1Die vollgesaugten Blutegel werden nach den geltenden Vorschriften entsorgt.7 Nach dem Entfernen der Blutegel sollten die behandelten Patientinnen und Patienten hinsichtlich möglicher Komplikationen beobachtet werden, darunter:1,3
- Blutungen: Sie sind die häufigste Komplikation. In der Regel reicht eine Kompression oder eine lokale Thrombinbehandlung aus, die Blutung zu stillen. In seltenen Fällen, bei wiederholten Anwendungen der Blutegeltherapie, kann es zu einer Anämie kommen, die mit einer Bluttransfusion behandelt werden muss.
- Infektionen: Sie sind die wichtigste Komplikation und werden meist durch Darmbakterien des Blutegels verursacht. Infektionen können noch 2 bis 11 Tage nach der Anwendung auftreten und sich als Abszess, Zellulitis bis hin zur Sepsis manifestieren.
- Allergische Reaktionen einschließlich Anaphylaxie
Kontraindikationen für die Blutegeltherapie
Für die Blutegeltherapie bestehen eine Reihe von Kontraindikationen, darunter die folgenden Erkrankungen:1,3
- Koagulopathien (Blutgerinnungsstörungen) wie Hämophilie
- Schwere Anämie
- Arterielle Insuffizienz
- Hämatologische Malignome
- Hypotonie
- Septische Erkrankungen
- Bekannte allergische Reaktionen gegen Substanzen im Speichel der Blutegel
Außerdem ist die Blutegeltherapie kontraindiziert bei schwangeren und stillenden Frauen (Infektions- und Blutungsrisiko) sowie bei Menschen, die mit Antikoagulanzien und immunsupprimierenden Arzneimitteln behandelt werden. Auch bei Menschen die Bluttransfusionen ablehnen, darf die Blutegeltherapie nicht angewendet werden.1,3
Kostenübernahme der Blutegeltherapie
In der Regel werden die Kosten für die Blutegeltherapie nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Die Preise für eine Behandlung variieren beispielsweise durch die Anzahl an eingesetzten Blutegeln und können individuell bei der jeweiligen Therapieeinrichtung erfragt werden.